Streng genommen hat Ramy Khouili damals die große Demo in Tunis verpasst. Die Straßen waren so überfüllt, dass er es mit seinen Freund*innen erst gar nicht bis zum Zentrum schaffte. Sie hatten in der Nacht zum 13. Januar 2011 vor lauter Aufregung kaum geschlafen, kamen dennoch früh am nächsten Tag nicht weiter als bis zu einer Nebenstraße der großen Avenue Bourgiba im Herzen der Hauptstadt. Das ganze Land schien auf den Beinen zu sein. Am 14. Januar 2011 erreichte die Massen dann eine Eilmeldung: Der Langzeitdiktator Zine el-Abidine Ben Ali war in einem Flugzeug mit seiner Ehefrau Leila Trabelsi und seinen engsten Vertrauten nach Saudi-Arabien geflohen.

Das Volk hatte die Diktatur besiegt – und konnte es erst gar nicht glauben.

Wir waren superjung und dachten uns: Sind wir vielleicht zu mutig?

»Noch am 13. Januar 2011 rief mich ein Freund an«, erinnert sich Khouili, »er sagte mir: Ramy, lass (uns) weiter auf die Straße gehen und für unsere Rechte, für die Freiheit demonstrieren!« Diesen Satz am Telefon zu formulieren, in einem Land, in dem jede*r und alles abgehört wurde, war mehr als nur eine Mutprobe. Ramy Khouili ist eine beeindruckend eloquente Person, die klar und stringent erzählen kann. Wenn er sich allerdings an die Begeisterung von damals erinnert, merkt man ihm schnell die Nervosität an, dieses vielleicht größte Ereignis in seinem Leben in Worte zu fassen. Als der damals 20-jährige Ramy Khouili mit seinen Freund*innen in der Innenstadt von Tunis stand und nicht weiterkam, bangt er um seine Zukunft. Und gleichzeitig dachte er sich: »Diese Demonstration ist meine Zukunft.« Natürlich hätten sie alle große Angst gehabt, sagt Khouili. »Wir waren superjung und dachten uns: Sind wir vielleicht zu mutig?«

Chronik

Am 17. Dezember 2010 zündete sich in der Stadt Sidi Bouzid der Marktstandbesitzer Mohamed Bouazizi aus Protest gegen das tunesische Regime und die soziale Ungerechtigkeit an.

Eine kompakte Chronik der Ereignisse, die sich vor 10 Jahren in Tunesien zugetragen haben.

Von Tag zu Tag entzauberte sich aber der Mythos vom allmächtigen Polizeistaat, bis die Angst – das effektivste Kontrollmittel des Regimes – abgefallen war. Alles ruhte in Tunesien: Abi-Prüfungen, Produktionsstätten, private Pläne. Wer nicht Teil des Repressionsapparats war, ging auf die Demos. Und Ramy Khouili war mittendrin: »Die größte Lehre für uns Tunesier*innen ist, dass das Ben-Ali-Regime gut darin war, sich als Polizeistaat zu inszenieren. Es steckte aber viel weniger dahinter.«

Er könne sich noch gut an »diese verrückten Tage« im Dezember 2010 und im Januar 2011 erinnern, sagt Khouili heute am Telefon. Der 31-jährige Aktivist befand sich damals mitten in den Vorbereitungen auf Uni-Prüfungen. Eine zentrale Botschaft wurde in dieser Zeit den jungen Tunesier*innen regelrecht eingetrichtert: In Tunesien darf man nicht demonstrieren gehen, nicht für seine Rechte einstehen, nicht politisch denken.

Illustration Tunisia: School
Als Schüler versteckte sich Khouili mit seinen Freund*innen, um regimekritische Musik zu hören.
CDs und MP3-Dateien mit politischen Rap-Songs gingen auf dem Schulhof als verbotene Ware diskret von Hand zu Hand.
Es sei der ultimative Kick gewesen, weil man ja dabei leicht erwischt werden konnte.

Der Satiriker und Musiker Bendir man (übersetzt bedeutet der Künstlername: Der Mann mit dem Tamburin) war einer der Lieblingskünstler von Ramy Khouili. Die gesungenen Texte sprachen ihm und der tunesischen Jugend aus der Seele: »Wir sind die 99-Prozent und wir haben eure ‚Demokratie‘ satt.« Künstler*innen wie Bendir man machten der Jugend des Landes Mut und zeigten, dass Kritik durchaus geäußert werden kann.

Die Warnung lautete: Geht ihr auf die Straße, werdet ihr von uns verprügelt.

Khouilis damaliges Gymnasium liegt in der Innenstadt von Tunis. Zum Innenministerium, der Herzkammer des Polizeistaates unter Ben Ali, ist es nur ein kurzer Spaziergang. Manchmal sah Ramy Khouili mit an, wie dort Aktivist*innen trotz der Repressionen Sit-ins organisierten, von der Polizei erbarmungslos verprügelt und festgenommen wurden. Das Regime wollte, dass junge Menschen wie Ramy Khouili stets an die Bilder festgenommener und misshandelter Demonstrant*innen denken. »Die Warnung lautete: Geht ihr auf die Straße, werdet ihr von uns verprügelt«, sagt Ramy Khouili.

Doch die Revolution bahnte sich schließlich doch ihren Weg. Die Bilder der Repressionen, der psychologische Terror des Regimes, die Politik der Abschreckung wirkten einfach nicht mehr. Der junge Ramy Khouili verspürte nach den ersten Demonstrationen von 2010 und 2011 Stolz über das, was er zusammen mit Millionen anderen Tunesier*innen geleistet hatte. Sie wussten nicht, was auf sie zukommen würde, sie wussten aber durchaus, dass sie Geschichte geschrieben hatten. Spätestens als am 15. Januar, an Tag eins nach dem Sturz des Regimes, das Wasser weiterhin aus den Hähnen floss, die Elektrizität funktionierte, die Menschen weiter am Leben waren, merkten sie: Es war die richtige Entscheidung, die Angst zu überwinden. »Ich war einfach nur erleichtert«, sagt Khouili.

In den vergangenen zehn Jahren hat Khouili für mehrere Organisationen auf vielen politischen Feldern gearbeitet: In der HIV-Prävention, zum Thema Minderheitenschutz oder zur EU-Nachbarschaftspolitik. Seine Einblicke beschreiben den Demokratisierungsprozess einer Gesellschaft, die mit Learning by Doing als Vorbild für eine ganze Region gelten könnte. Ramy Khouili findet zu dieser Erwartungshaltung aber klare Worte: »Ich glaube nicht an die ‚tunesische Ausnahme‘, von der viele immer sprechen.« Mit diesem Konstrukt haben einige politische Beobachter*innen versucht, den Erfolg der tunesischen Revolution im Vergleich zu den anderen Demokratiebewegungen in Nordafrika und im Nahen Osten zu erklären. »Eine tunesische Ausnahme zu definieren, führt nirgendwohin, weil die Kontexte der Länder einfach grundverschieden sind«, sagt Khouili.

Tunesien sei beispielsweise nach 2011 kein Ziel militärischer, internationaler Interventionen gewesen. Khouili hat eine bemerkenswerte Gabe, komplizierte Zusammenhänge zusammen zu denken. In Tunesien existierte weder ein allmächtiger Militärapparat noch ein omnipräsentes Königshaus. Khouili plädiert entschieden dafür, jeweils auf die nationalen Gegebenheiten zu blicken und die Anstrengungen der verschiedenen Demokratiebewegungen zu würdigen. Seine Analyse: Es stimme durchaus, dass Tunesien früh versucht habe als Gesellschaft voranzukommen. Die Sklaverei wurde beispielsweise schon im 19. Jahrhundert offiziell abgeschafft. In Tunesien hätten nach 2011 aber vor allem die wirtschaftlichen Ungleichheiten zwischen den Regionen des Landes die Bewegung ausgelöst, die am Ende das Regime zu Fall gebracht habe. Der verzweifelte Suizid des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi in der Kleinstadt Sidi Bouzid stehe für die Vernachlässigung der Armen und des ländlichen Raums durch das damalige Regime.

Illustration Tunisia: No future
Auch Khouili führte Bouazizis Verzweiflung vor Augen, wie prekär die Situation im Land überhaupt war und zum Teil weiterhin ist.
Der Druck auf die tunesische Jugend wurde im Jahr 2011 so unerträglich, dass ihr nur drei Optionen blieben: sich zu betäuben und wegzuschauen, eine Verzweiflungstat zu begehen oder eine Revolution zu starten.
»Die großen Städte, vor allem die Bewohner*innen von Tunis zogen mit Blick auf die Rebellion in den Provinzen lediglich nach«, sagt Khouili.

Er ignoriert in dieser Reflexion auch nicht die europäische Perspektive. Denn einen Interventionsversuch von außen wird er nie vergessen: Während er und seine Freund*innen Anfang 2011 ihr Leben auf den Straßen riskierten, bot die damalige französische Regierung des rechts-konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy dem Ben-Ali-Regime technische und politische Expertise an – um den Volksaufstand niederzuschlagen. »Wir können das Savoir-Faire unserer Sicherheitskräfte anbieten, um die Sicherheitslage [in Tunesien] zu regeln«, sagte Sarkozys damalige Außenministerin Michèle Alliot-Marie in der Assemblée Nationale in Paris. Alliot-Marie hatte exzellente Kontakte zum Ben-Ali-Regime und war mit mehreren einflussreichen Figuren der Diktatur gut befreundet. »Wir haben in diesem Augenblick verstanden, dass es an uns liegt, die Revolution friedlich und erfolgreich über die Bühne zu bekommen«, sagt Khouili. Diesen Sinn für Eigenverantwortung hätten sich viele Tunesier*innen bis heute erhalten.

Nichts ist umsonst. Es braucht einen konstanten Druck von der Straße.

Und so sei es falsch von »der Revolution des Jahres 2011« zu sprechen. Die größte Demonstration fand in Tunesien tatsächlich im August 2013 in der Übergangszeit der verfassungsgebenden Versammlung statt. Knapp eine Millionen Menschen, also weit mehr als alle Bewohner*innen der Hauptstadt zusammen, versammelten sich im Zentrum von Tunis, um Artikel 21 der neuen tunesischen Verfassung gegen den politischen Widerstand einiger Parteien durchzusetzen: Er garantiert die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern. Eine Erfahrung, die die herausragende Bedeutung eines eigenständigen und eigenverantwortlichen politischen Engagements von Bürgerinnen und Bürgern bestärkt hat. »Nichts ist umsonst. Es braucht einen konstanten Druck von der Straße«, sagt Khouili. Sein Kampf für die Gleichberechtigung ist sogar älter als die Revolution selbst. In einem YouTube-Video, das einen Monat vor dem Suizid-Versuch von Mohamed Bouazizi ins Internet gestellt wurde, plädiert Khouili beispielsweise für mehr sexuelle Aufklärung in der Schule, den juristischen Schutz von Minderheiten und gesellschaftliche Akzeptanz. Ein Versprechen der Revolution war, dass dies alles sogar erreichbar sein kann.

Notwendig sei weitere Mobilisierung im Land, um soziale Reformen zu erzwingen, die wirtschaftliche Lage zu stabilisieren und Menschenrechte durchzusetzen, die nun in der tunesischen Verfassung garantiert sind, so Khouili. Queere Menschen werden weiterhin eklatant diskriminiert, ihre Liebe kriminalisiert. Der Verfassungstext ist in dieser Hinsicht allerdings klar: Minderheiten dürfen nicht benachteiligt werden, auch nicht jene, die über die sexuelle Identität definiert werden. Das tunesische Strafgesetzbuch, das teilweise aus der Kolonialzeit stammt, steht diesem Grundsatz aber immer noch entgegen.

Illustration Tunisia: LGBTIQ*

Paragraph 230 des tunesischen Strafgesetzbuches stellt Homosexualität weiterhin unter Strafe. Einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Menschen des gleichen Geschlechts können demnach mit bis zu drei Jahren Haft sanktioniert werden. Das oberste Verfassungsgericht befasst sich seit Einführung der neuen Verfassung mit der Harmonisierung des Strafrechts und der geltenden Verfassung. Doch erzkonservative Kräfte im Land planten, so Khouili, die LGBTIQ-Rechte weiterhin einzuschränken – dabei schöben sie »eine Balance und eine nötige Priorisierung« vor. Und mittlerweile hätten auch schon andere politische Kräfte im Land signalisiert, dass die LGBTIQ-Rechte geopfert werden könnten, sagt Khouili. 

Heute ist Ramy Khouili einfach nur wütend, wenn er den queerfeindlichen Konsens der politischen Elite beschreibt. Auch, weil sich darunter viele Politiker*innen befinden, die ihre Karrieren allein der Revolution zu verdanken haben. Eine Revolution, die ebenso von Angehörigen der LGBTIQ-Community getragen wurde, bei der queere Menschen ihr Leben riskiert haben. Und nun soll ausgerechnet diese besonders benachteiligte und verletzbare Gruppe leer ausgehen, ja sogar geopfert werden? »Ohne den Druck der Zivilgesellschaft, den kritischen Blick der freien Presse, das Engagement der Menschen in Tunesien passiert in diesem Land rein gar nichts«, bekräftigt Ramy Khouili.

In diesem Sinne gehe die Revolution weiter.