Mona und Sanaa Seif hatten nie vor, politische Aktivistinnen zu werden. Im Gegenteil: Die Schwestern rebellierten früh gegen ihre politisierten Eltern. Der Vater, ein Menschenrechtsanwalt, und die Mutter, eine Universitätsprofessorin, sprachen Zuhause ununterbrochen über die Verbrechen, über die Korruption und die Unterdrückung durch das Mubarak-Regime. Die Kinder der Seifs wandten sich ab, spätestens als Teenager rebellierten sie gelangweilt gegen die Mission ihrer Eltern und wollten eigentlich nichts mit der Opposition zu tun haben – bis zu dem Zeitpunkt, als sie realisierten, dass die Politik sie auf grausame Weise längst eingeholt hatte.
War sie die Tochter eines Kriminellen? Irgendwann leuchtete es ihr ein: Das Schicksal ihrer Familie liegt in anderen Händen.
Die Gewalttätigkeit des neuen Regimes von Präsident Abdelfatah al-Sisi sei mittlerweile ein ständiges Hintergrundrauschen in ihrem Leben, sagt Mona Seif. Die 35-jährige Krebsforscherin aus Kairo ist berühmt, denn sie steht mit ihrer Familie spätestens seit der Revolution von 2011 im Rampenlicht der aktivistischen Szene Ägyptens. Das Rauschen der Repression in ihrem Leben wurde in den vergangenen zehn Jahren lauter und lauter. Entlang der Geschichte der Familie Seif lässt sich die postrevolutionäre Dekade im Land auf traurige Weise eindrücklich erzählen. Es ist eine Geschichte über staatliche Willkür, das Durchhaltevermögen einer starken Frau und ihrer Familie und einer offenen Zukunft – die sowohl in Freiheit oder einer dauerhaften Diktatur münden kann.
Sie habe damals schlicht nicht verstanden, warum ihr Vater im Gefängnis sitze. War sie die Tochter eines Kriminellen? Irgendwann leuchtete es ihr ein: Das Schicksal ihrer Familie liegt in anderen Händen. Im Jahr 2007 ging sie auf ihre erste richtige Demonstration, organisiert von einer Gewerkschaft in Solidarität mit den inhaftierten Anwält*innen im Land. Viele ihrer Freund*innen wurden damals festgenommen. Als kurze Zeit später ihr Bruder Alaa Abdelfatah, ein bekannter Softwareentwickler und Blogger, in die Fänge des Regimes geraten war, sah Mona Seif nur einen Weg: Sie musste selbst zur Dissidentin werden.
»Der Fall Said hat dafür gesorgt, dass die Polizeigewalt in Ägypten sehr sichtbar wurde. Khaled Saids Schicksal war eine Brücke zu meinem eigenen Leben, meinem Alltag, meiner Familiengeschichte. Ich habe mich selbst darin wiedergefunden und wollte, dass so etwas nie wieder passiert. Auch niemandem in meiner Familie passiert«, sagt Mona Seif. »Tötet uns nicht!«, hieß ein Slogan, den auch Mona Seif rief und bis heute regelmäßig wiederholen muss. Doch ist das in Ägypten womöglich schon zu viel verlangt?
Nach 2010 haben sich Millionen von Menschen zusammengefunden geeint in einem Cocktail aus unterschiedlichen Gefühlen: Solidarität, Empathie, Wut, Trauer, Mut, Schwäche, Empörung, Verzweiflung und Hoffnung zugleich. Zehn Jahre später hat sich die Lage im Land nicht beruhigt. Mona Seif formuliert bei diesem bis heute anhaltenden Chaos der Emotionen mittlerweile einen schlichten Wunsch:
»Ich möchte und brauche eine Pause. Das ist alles.« Denn spätestens seit 2010 ist das Gefängnis im Leben ihrer Familie zum Normalzustand geworden. Die drei Geschwister landeten seitdem selbst immer wieder auf Polizeirevieren, in Gerichtssälen und schließlich in Gefängniszellen. Seit bald zehn Jahren kämpft Mona Seif pausenlos für die Freiheit ihrer Liebsten. »Wir fühlen uns mittlerweile ausgelaugt. Wir sind müde und haben eigentlich keine Kraft mehr«, sagt Mona Seif. Das ermüdende Spiel zwischen nicht ebenbürtigen Gegner*innen nehme einfach kein Ende. »Ich kann nicht mehr«, bilanziert Seif.
So anstrengend es ist: Ich kann es nicht zulassen, dass sie meine Menschlichkeit ausradieren.
Sie verstehe manchmal schlicht nicht, warum ihre Familie vom Regime so sehr gehasst werde. Es sei eine Mischung aus persönlicher Aversion einzelner Geheimdienstbeamter, Polizisten und Staatsanwälte – und der Anarchie innerhalb eines autoritären Regimes. Bei Familie Seif ist es ein Richter, der sich fest vorgenommen hat, Alaa Abdelfatah, Sanaa und Mona in den Fängen des Regimes zu zermürben. Jede Person, die nicht der Diktatur huldigt, ist in Ägypten zum Abschuss freigegeben. Dazu kommt die Tatsache, dass die Mächtigen über dem Gesetz stehen. »Tausende Ägypter*innen, die rein gar nichts getan haben, sitzen im Gefängnis. Einfach so«, sagt Mona Seif konsterniert, »und wenn man im Anblick dieser Repressionen nicht sofort aufhört, als denkendes Subjekt zu existieren, fragen sie sich im Regime: Wie kann es sein, dass sie noch als Menschen vor uns stehen, sprechen, einen eigenen Willen haben? Die Machthaber in diesem Land wollen die Menschenwürde ihrer Gegner*innen auslöschen. So anstrengend es ist: Ich kann es nicht zulassen, dass sie meine Menschlichkeit ausradieren.«
In den Jahren nach der Revolution von 2011 ist viel in Ägypten passiert: die Absetzung von Langzeitdiktator Hosni Mubarak durch das Volk, demokratische Wahlen, der Aufstieg und Fall der Muslimbruderschaft, ein Militärputsch, mehrere Wirtschaftskrisen, unzählige Terrorattacken, ein Krieg auf der Sinai-Halbinsel, über den wenig bekannt ist, feministische Aufstände gegen sexualisierte Gewalt, die immer schärfere Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit, der autoritäre und andauernde Backlash durch das Regime – und Tausende politische Morde. »In meinem Kopf dreht sich alles«, schrieb Mona Seif auf Twitter neulich. Dort folgen ihr knapp 600.000 Menschen. An Mona Seifs Tweets kann man ablesen, dass es überall im Land brennt. Der eine Skandal ist noch nicht ausgestanden, da muss sich die junge Aktivistin schon zur nächsten Krise äußern: Wenn Dissident*innen und Demonstrant*innen von Panzern überrollt werden, wenn Menschen bei Kundgebungen einfach erschossen werden, wenn Oppositionelle von den Sicherheitsbehörden gekidnappt und zu Tode gefoltert werden, wenn politische Gefangene in Vergessenheit geraten.
Mona Seif will und kann ihre Geschwister nicht vergessen, schreibt sie regelmäßig auf Twitter. Die Likes und Ermutigungen ihrer Follower*innen wirken hilflos und deprimiert. Selbst wenn mal eine gute Nachricht auftaucht, währt die Erleichterung nicht lange: Ihr Bruder Alaa Abdelfatah wurde im März 2019 nach fünf Jahren Haft kurzzeitig entlassen. Ihm wurde vorgeworfen, ohne Genehmigung Proteste angeführt zu haben. Die Familie sagt, der Vorwurf sei aus der Luft gegriffen. Nach seiner Freilassung standen ihm aber weitere fünf Jahre bevor, in denen er sich jeden Abend bei der Polizei melden sollte. »Überwachung« nennt die ägyptische Justiz diese Art der Strafe. Und so hatte sich Alaa Abdelfatah geschworen aufzuhören und keine Blogeinträge mehr zu schreiben, nicht mehr zu Demonstrationen zu gehen, sich auf seine Familie und seine Arbeit zu konzentrieren. Er zog sich komplett aus der aktivistischen Szene zurück.
»Er wollte einfach nicht noch einmal ins Gefängnis kommen. Trotzdem haben sie Alaa im September 2019 einfach wieder festgenommen«, sagt Mona Seif. Diesmal wirft ihm das Regime »Terrorismus« vor. Es sei mittlerweile irrelevant, ob man wirklich etwas getan habe, was die Mächtigen beleidige. »Wenn sie wollen, holen sie einen einfach ab. Weil sie uns schlicht hassen und weil sie damit eine klare Botschaft an alle anderen versenden können.« Den Protest ersticken, bevor er überhaupt in den Köpfen entsteht: Das scheint die Strategie des ägyptischen Sicherheitsapparats zu sein.
Sie habe dabei nicht die Option, klein beizugeben: Aufgeben bedeutet sterben.
Doch Mona Seif hat keine Angst mehr und spricht Klartext: Seit der Herrschaft von Präsident Abdelfatah al-Sisi habe sich die Lage verschlimmert. Die Repression sei schlicht dumm. Denn dadurch lasse man der Opposition nur eine Wahl: Weitermachen, um zu überleben.
Und so schlitterte die Familie Seif wieder in den Strudel, für ihre Freiheit kämpfen zu müssen. Laila Soueif, Mutter von Mona Seif, ist Professorin für Mathematik an der Universität Kairo. Die Feministin und Menschenrechtlerin ist in Ägypten für ihre Furchtlosigkeit bekannt. Ihre Tochter Mona schöpft Kraft aus dem Kampf ihrer Mutter: »Sie macht es viel länger als ich und ist dabei fit und zielstrebig wie eh und je.« Das Regime wisse, dass Soueif im akademischen Bereich gut vernetzt sei. Ein Großteil der Studierenden solidarisiere sich mit dem Freiheitskampf der Familie Seif. Aus dem Einzelfall könne schnell wieder eine breit aufgestellte politische Bewegung werden. So wie damals bei Khaled Said. »Vielleicht hat das Regime uns auch deswegen im Visier und scheut nicht, die brutalsten Methoden gegen uns einzusetzen«, vermutet Mona Seif. Sie habe dabei nicht die Option, klein beizugeben: »Aufgeben bedeutet sterben.«
Ende Juni 2020 campierten Mona und Sanaa Seif mit ihren Eltern vor dem Torra-Gefängnis im Süden der Hauptstadt Kairo. Sie forderten mit ihrem Bruder Alaa Abdelfatah sprechen zu dürfen, zu wissen, wie es ihm gesundheitlich und psychisch geht. Das Regime hatte Besuche eingeschränkt, die Kommunikation zu den Anwälten unterbunden. Alaa Abdelfatah startete in seiner Isolationszelle einen Hungerstreik. Die Familie verlangte – wie so oft – schlicht Aufklärung und einen fairen Prozess. Um auf die Situation von Alaa Abdelfatah aufmerksam zu machen, übernachteten sie alle auf dem Bürgersteig vor dem Hochsicherheitstrakt – bis die schlagenden Frauen vorbeikamen. Das Regime schickt gerne bezahlte Schergen vorbei, um politischen Aktivismus niederschlagen zu lassen.
Wir haben friedlich, ja sogar stumm für unsere Rechte demonstriert. Sie haben uns brutal verprügeln lassen. So sieht meine, so sieht unsere Realität aus.
In einem Video ist Mona Seif zu sehen, wie sie atemlos wegrennt und in ihre Handykamera spricht. Ihre schwarzen Locken stehen ab, jemand habe sie an den Haaren über den Bürgersteig geschleift, sagt sie. »Sie haben uns geschlagen, sie haben versucht, mir meine Tasche wegzureißen. Sie haben uns verprügelt. Die Polizisten haben sich das alles angeschaut, nichts getan«, erzählt Mona Seif im Video, das später viral über Facebook, Twitter und YouTube Zehntausende Menschen erreichen wird. Schwarz gekleidete, teils aufgeputschte Frauen hätten die Familie angegriffen, heißt es in Presseberichten und Beschreibungen von Menschenrechtsorganisationen. Mona Seif sagt, dass ihre kleine Schwester Sanaa dabei besonders brutal geschlagen worden sei. »Wir haben friedlich, ja sogar stumm für unsere Rechte demonstriert. Sie haben uns brutal verprügeln lassen. So sieht meine, so sieht unsere Realität aus.«
Kurze Zeit später wird die 28-jährige Sanaa Seif, Monas kleine Schwester und eine bekannte Filmemacherin, unter fadenscheinigen Vorwänden festgenommen. Ihr wird vorgeworfen Fake News zu verbreiten. Damit beweist die ägyptische Justiz wiedermal, dass sie schnell lernfähig ist und Begriffe aus dem Westen für ihre eigenen Zwecke adaptiert. Sanaa Seif ist seitdem in Haft. Eine internationale Kampagne fordert ihre Freilassung. Hollywood-Stars wie Danny Glover, Maggie Gyllenhaal und Thandie Newton, berühmte Autor*innen wie Noam Chomsky, Arundhati Roy und J. M. Coetzee haben sich dem Aufruf angeschlossen.
Dennoch seien die Kraftreserven aufgezehrt. »Das Regime zwingt uns zum Vollzeit-Aktivismus«, sagt Mona Seif. Man sei gefangen zwischen Gerichten, Demonstrationen, Anwaltsterminen, Pressegesprächen, Gefängnisbesuchen und schlaflosen Nächten. Ein normales Leben könne sie nach dieser vergangenen, intensiven Dekade nie wieder führen. Niemand könne so eine Belastung für zehn Jahre einfach wegstecken. »Es ist aber irgendwie beruhigend zu wissen, dass wir viele sind.«